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Ein verendeter Aufschrei gegen ‚Cuties‘

Ich habe ‚Cuties‘ gesehen. Mich trieb vor allem eine Frage um: Rechtfertigt der Plot die kinderpornografischen Tanzszenen?
Meine Antwort vor Anschauen des Films war: Nein, niemals! Kein Plot der Welt kann so etwas jemals rechtfertigen.
Meine Antwort nach Anschauen des Films ist: Äh. Welcher Plot?

‚Mignonnes‘/‘Cuties‘ ist ein französischer Film über die Tochter senegalesischer Einwander*innen in Paris, Aminata, kurz Amy. Die Mutter vertritt konservative Werte, laut derer sich die Frauen bedecken und ihrem Mann dienen müssen, auch wenn sie emotional unter der anstehenden zweiten Hochzeit ihres polygamen Ehemannes leidet. Die Tanzgruppe, die Amy dann kennenlernt, ist dagegen der Inbegriff dessen, was die Regisseurin Maimouna Doucouré in Szene setzen will: Die (Selbst)-Hypersexualisierung vorpubertärer Mädchen, die sich in ihrer Verlorenheit zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen den unterschiedlichen Kulturen und zwischen Marginalisierung und Dazugehören-Wollen an die sozialen Medien wenden. Soziale Medien, die ihnen suggerieren, dass die Frauen, die sich besonders erotisch darstellen, den meisten Ruhm bekommen und daher ihre Vorbilder werden. Soweit, so brisant. Amy macht bei der Gruppe mit, die mit einer hochsexualisierten Twerk-Performance an einem Wettbewerb teilnimmt. Dieser fällt allerdings mit der Hochzeit ihres Vaters zusammen und bildet das große Finale des Films.

Der Film erntete großes Lob und ebenso vehemente Kritik wegen der expliziten Tanzszenen der minderjährigen Hauptdarstellerinnen. Schon florierten Kampagnen gegen den Streamingdienst Netflix, den Film wieder von der Plattform zu nehmen. Verschwörungsmystiker sehen hochvernetzte pädophile Manipulation am Werk. Auf der anderen Seite verteidigen Kritiker den Film für seine nuancierte und einfühlsame Darstellung einer brisanten Thematik. Irgendwo dazwischen gibt es Stimmen, denen ich mich anschließe, die die kinderpornografischen Elemente strikt ablehnen, ohne deshalb gleich durchzudrehen. Worum geht es also?

Kindesmissbrauch? Kindesmissbrauch!

Wir sehen 13-jährige Mädchen in höchstsexualisierten Posen, die twerken, aufreizend die Beine grätschen und die Augen rollen usw. usf. Das ganze über mehrere Minuten je Tanzszene und mit filmischen Mitteln – Close-ups auf Hintern, Brüste etc. – extrem exponiert. Das Problem ist nicht, dass hier Hypersexualisierung thematisiert wird, sondern die Art und Weise: Die Tanzszenen sind zahlreich und lang und – wie Youtuber D’Angelo Wallace richtig anmerkt – in dieser Explizitheit überhaupt nicht notwendig, um den Plot oder die Darstellung des Problems voranzubringen. Jetzt könnte mensch hergehen und behaupten, das sei aber gerade die Aufgabe der Kunst und des Kinos, diese grausamen Realitäten genauso schmerzhaft darzustellen, wie sie sind: Wenn alle Leute entsetzt sind, hat die Regisseurin einen guten Job gemacht. Diese Sicht finde ich grundsätzlich okay, nur weil die drastische Darstellung schlimmer Dinge nicht meinem Geschmack entspricht, muss es trotzdem eine Möglichkeit der Kunst sein. Aber: Wenn es um die Sexualisierung von Minderjährigen geht, gilt diese Freiheit der Kunst nicht. Darf nicht gelten. Denn der Schutz von Minderjährigen muss immer Vorrang haben. Immer. Sonst könnten auch Pädophile sich einfach interessante Plots oder künstlerische Aussagen für ihre Kinderpornographie ausdenken und damit durchkommen. Zumindest ist das eine schockierende Vorstellung, die sich mir aufdrängt, wenn Leute mit dem Argument der Kunst ‚Cuties‘ verteidigen wollen.

Das andere Argument in diese Kerbe ist, dass der Film völlig klarmacht, dass er die Hypersexualisierung nicht gutheißt und eine vielfacettige Geschichte um die Problematik herum spinnt. Aber kein Plot der Welt, keine noch so nuancierte und einfühlsame Milieustudie kann jemals eine Rechtfertigung sein, Minderjährige in derart hochsexualisierten Posen und Choreographien darzustellen und diese Darstellung allen Pädophilen der Welt rechtlich abgesichert zugänglich zu machen. Ich glaube gerne, dass die Regisseurin in guter Absicht gehandelt hat, aber leider hat ihr filmisches Handwerk offensichtlich nicht ausgereicht, um die gute Absicht auch gut zu transportieren. Die Darstellung von Hypersexualisierung von Minderjährigen ist ja genau deswegen so ein schwieriges Thema, weil sie eine solche Gratwanderung erfordert zwischen der realistischen Darstellung des Entsetzlichen und eben Kinderpornographie. Die Regisseurin hat sich hier mindestens in der Darstellung vergriffen und gegen eine notwendige Etikette verstoßen, also mindestens auf handwerklicher Ebene versagt. Vielleicht fehlten ihr für solch harten Tobak dann eben doch die Ausbildung und das Training als visuelle Geschichtenerzählerin (sie ist studierte Biologin). Darauf deutet auch die Kritik hin, dass ihre Botschaft – die Kritik an der Hypersexualisierung – nicht eindeutig genug hervorsticht. Genau das muss aber bei einem solchen Film, der ohnehin bei der Gratwanderung in die falsche Richtung zu kippen droht, unbedingt gegeben sein. Wenn der Abspann läuft, darf nicht die kleinste Spur von Ambiguität übrigbleiben. Diese Ambiguität besteht aber offensichtlich, wenn Leute im Internet Aussagen machen wie: „Was sie uns damit sagen will, ist: Wir sehen diese Kinder und finden sie heiß – und das ist ok.“

Auch auf menschlicher Ebene haben die Regisseurin und ihre Crew, nicht zu sprechen von den Eltern, versagt. Denn im Falle von Cuties wird der Schutz der minderjährigen Hauptdarstellerinnen offensichtlich nicht gewährleistet: Die tatsächlich Minderjährigen twerken, die Bilder davon werden verbreitet und die pädophile Nutzung, auch wenn sie natürlich nicht das Ziel ist, wird aber zumindest sorglos in Kauf genommen.
Außerdem verschärft Doucouré mit ihrem Projekt ein Problem, das sie selbst als solches benannt hat: Die Mädchen lernen, dass die selbst vorangetriebene Hypersexualisierung ihnen weiterhilft, diesmal sogar nicht nur in den sozialen Medien, sondern um die Hauptrollen in einem Film zu bekommen. Die erfolgreichsten Mädchen sind hier wieder die, die bereit sind, sich derart sexualisiert vor der Kamera zu zeigen, denn dadurch, so scheint es, haben sie ihre Rollen ergattern können und durch dieses Verhalten, das beim Dreh von ihnen gefordert wird, werden sie zu erfolgreichen Nachwuchsschauspielerinnen.

Wie konnte Doucouré das zulassen? Die Regisseurin berichtet, dass sie eine Szene wie den Abschlusstanz im echten Leben gesehen hat und dieser sie zu ‚Cuties‘ inspiriert hat. Fast scheint es, als habe diese Faszination sie gefangen genommen und ihr kritisches Denken aufgeweicht. Die erotisierenden Tanzszenen sind mit einer solchen Liebe zum Detail gefilmt – fast wie Videoclips und auch in dieser Länge –, da scheint es unausweichlich, dass Doucouré tatsächlich eine Art Ästhetik darin gesehen hat, Minderjährige erotisch tanzen zu sehen (wenn auch keine pädophile, wie mir scheint und wie ich hoffe). Dennoch sollte klar sein, dass diese Darstellung nicht tolerierbar ist, unabhängig von Intentionen, die im Zweifel nicht mal erkennbar sind: Die Perspektive der Kamera ist de facto die Perspektive der Regisseurin, der Erzählerin, die von außen auf das Geschehen schaut. Die Protagonistinnen mögen eine Obsession für ihre unterentwickelten weiblichen Körperteile entwickeln, aber der Blick der Erzählerin muss ihrem Blick nicht folgen. Dass er es in ‚Cuties‘ aber tut und auf die vorpubertären Brüste und Hintern zoomt, stellt ein Problem dar, das nicht mit dramaturgischen Argumenten zu rechtfertigen ist. Jedenfalls nicht, wenn es um Minderjährige geht.

 

Auch der Schutz anderer Kinder wird gefährdet, denn die Bilder normalisieren die sexualisierte Darstellung von Kindern noch weiter, was letztendlich auf die Kinder zurückfallen wird. Die typische Zielgruppe für Coming-of-Age-Filme ist in den USA sogar zu jung, um den Film konsumieren zu dürfen, sodass die Message beim Zielpublikum nicht ankommen kann, ganz zu schweigen von den genannten unterschwelligen Botschaften, die vielleicht auch besser gar nicht ankommen sollten. Was bringt aber ein Coming-of-Age-Film, wenn vorpubertäre und pubertäre Menschen ihn nicht schauen dürfen?

Was hätte die Regisseurin besser machen müssen?

Sie hätte die Hauptdarstellerinnen schützen müssen. Wie kann das gehen? Sie hätte zierliche Volljährige casten müssen. Sie hätte statt eines Spielfilms eine Dokumentation machen können, in der betroffene Jugendliche berichten. Nicht umsonst hat sie mit vielen betroffenen Jugendlichen gesprochen, um sich ein Bild zu machen, die Möglichkeit war also gegeben. Sexy Tanzskills hätten kein Auswahlkriterium beim Casting sein dürfen.
Vor allem aber hätte sie die exzessiven Tanzszenen soweit reduzieren müssen, wie sie für die Botschaft des Films ausgereicht hätten, und aus Perspektiven filmen müssen, die die Protagonistinnen als die suchenden Fast-Jugendlichen, die sie sind, in den Vordergrund stellt und nicht ihre Körper. Wenn die Mädchen gegenseitig auf ihre Intim-Bereiche zoomen, hätte der Film zeigen können, wie sie mit der Kamera voreinander stehen statt nur ihren schwingenden Lendenbereich selbst. Die ganz ekligen Szenen, wie das Twerken vor den Sicherheitsangestellten, um keinen Ärger zu bekommen (ergo: sexuelle Handlung im Tausch für Vorteile, aka Prostitution), hätte die Regisseurin sicher auslassen können, ohne die Dringlichkeit des Films zu schmälern.
Und nicht zuletzt hätte sie den Plot anders aufziehen müssen: Dass das große Twerk-Finale in Konkurrenz steht zur Hochzeit des Vaters, auf der Amy auch erscheinen muss, erinnert zu sehr an andere Plots, z.B. aus Freaky Friday oder Kick it like Beckham, wo mit der Familienhochzeit ein der Protagonistin sehr wichtiges, aber an sich durch und durch unproblematisches Ereignis zusammenfällt (Rockkonzert bzw. Fußballspiel). Vor dem Hintergrund dieser Analogie erscheint das Twerk-Finale als die große Errungenschaft, die Amy für sich erstreiten möchte. Dabei kommt es ganz anders, denn sie merkt, dass etwas nicht stimmt, sie weint, läuft weg und flüchtet sich in den Schoß der Mutter zurück. Hier hätte der Film nicht aufhören dürfen, denn jetzt beginnt ja erst die spannende Phase der Reflexion, nachdem Amy beide Extreme gesehen hat. Das große Twerken hätte also für eine wahrhaft subtile Auseinandersetzung in der Mitte des Films angesiedelt sein müssen, sodass genug Raum für Amys weiteren Umgang damit hätte bleiben können. Im Zuge dieser Ploterweiterung hätte die Regisseurin es auch leichter gehabt, ihre Kritik an der Hypersexualisierung wirklich anschaulich zu vertreten.

Dieser Plot kann nichts rechtfertigen

Dass die Hypersexualisierung in dem Film kritisiert wird, habe auch ich nicht zur Genüge sehen können. Überhaupt hinkt der Film in vielerlei Hinsicht, bleiben Stränge unerzählt und viele Fragen offen. Z.B. verwirrt es sehr, dass Amy in der ersten Hälfte des Films nie Rüge erfährt für ihre provokanten Aktionen, wie den kleinen Bruder im Bad wegsperren, der dann die Wohnung unter Wasser setzt. Auch, dass sie nach anfänglicher Häme von jetzt auf gleich Teil der Cuties-Clique wird. Funktionieren so pubertäre Mädchencliquen? Ich glaube nicht. Amys Entwicklung und ihre Gründe für die Selbsthypersexualisierung sind nicht nachvollziehbar: So sexualisiert tanzen die Cuties anfänglich nämlich gar nicht. Amy lernt ihre Choreografie auswendig, um mitmachen zu können. In einem Vortanzen vor ihrer Freundin, die schon dazugehört, will sie sich profilieren und schafft es auch, weil sie gut tanzen kann. Dann geht sie in Hündchenstellung, legt sich aus heiterem Himmel auf den Boden und klatscht lasziv ihren Unterleib auf die Fliesen. Aber warum bloß? Die Szene ist zudem begleitet von einem sehr hässlichen Bild- und Tonschnitt, der wie frisch aus dem Wohnzimmer-MovieMaker aussieht. Die nächste Einstellung zeigt, wie sie den Cuties diese lasziven Bewegungen beibringt. Nur von Videosgucken ist sie dafür Expertin geworden? Und die Cuties akzeptieren sie plötzlich als das große Vorbild mit dem nötigen Know-how und lassen sich unhinterfragt von ihr coachen? Funktionieren so Mädchencliquen? Ich glaube nicht. Am verstörendsten aber ist die Endszene: Nachdem Amy ein anderes Mädchen eiskalt aus dem Weg geräumt – in den Fluss geschubst – hat, um noch mittanzen zu können, auf der Bühne in Tränen ausgebrochen und nach Hause gelaufen ist, reicht die – völlig plötzliche und unnachvollziehbare – Unterstützung der Mutter aus, um alles vergessen zu machen. Amy geht dann im kurzen Top auf die Straße und springt Springseil mit anderen Kindern, die aus heiterem Himmel nun doch da sind und genauso gut ihre Freunde sein können. Der Film endet wie immer ohne Konsequenzen und ohne, dass bestehende Konfliktlinien auserzählt werden. Plötzlich ist sie wieder fröhlich und unbeschwert wie ein Kind und alles Vorherige war wohl nur ein Albtraum aus einem schlechten Film.

Klarstellung

Nur um das klarzustellen, was heutzutage leider nötig ist: Wer auch immer die ‚Cuties‘-Polemik für die eigene politische Agenda einspannt, missbraucht die Beteiligten ein zweites Mal – und damit meine ich nicht die US-Republikaner, die gegen den Film vorgehen, sondern diejenigen, die damit etwa die Erzählung verknüpfen, dass Trump wiedergewählt werden muss, um Kindesmissbrauch zu verhindern. Wer auch immer die Polemik um ‚Cuties‘ für seine Verschwörungsmythen einspannt („Die Gesellschaft wird toleranter gegenüber Pädophilie, weil die da oben das geplant haben und steuern“), missbraucht die Beteiligten ein zweites Mal. Aber auch, wer behauptet, jegliche Kritik an dem Film komme nur aus der rechten Ecke und stets nur im Gespann mit Verschwörungsmythen daher, liegt völlig falsch und entzieht sich seiner Verantwortung, unsere jungen Generationen zu schützen.

Dass wir hier einen Film haben von einer schwarzen Regisseurin mit schwarzen Hauptdarstellerinnen, der zudem eine tragische Realität thematisiert, von der auch besonders migrantische Mädchen betroffen sind, ist eine wundervolle Entwicklung des europäischen Kinos. Jetzt müssen nur mehr schwarze Regisseurinnen zu Wort kommen, die auch das filmische Handwerk beherrschen, und muss Frau Doucouré sich dieses Handwerk aneignen, damit der nächste Film kein Ausrutscher mehr wird.

              Photos: Medium - ALCA - Berlinale